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Gewalt baut sich auf

Übergriffe auf Beschäftigte im ÖPNV

Quelle: dbb, tacheles, Juni 2017

Wie es ist, wenn ein normaler Dienst als Beschäftigter im öffentlichen Nahverkehr, zum Beispiel als Bus- oder Bahnfahrer, plötzlich und grundlos in einer gewalttätigen Auseinandersetzung enden kann, haben zahlreiche Beschäftigte in ganz Deutschland bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Um aufzuzeigen, wie besorgniserregend schnell es zu Gewalt gegen Bus- und Bahnfahrer des öffentlichen Nahverkehrs kommt, hier zum Einstieg die Darstellung eines realen Falls, der sich wie beschrieben zugetragen hat und lediglich anonymisiert ist.

Kein Einzelfall

Kollege E. ist Busfahrer bei der Firma Z. lm Rahmen seiner Tätigkeit als Busfahrer fährt er im März 2017 in seiner Nachtschicht in der Stadt F. seine vorgegebene Linie. Cegen 03:30 Uhr steigen circa elf Jugendliche an einer Haltestelle in seinen Bus ein. Zur Gruppe gehören etwa fünf bis sechs männliche Jugendliche. Einer der Jugendlichen beginnt, während der Fahrt seine Sporttasche im Bus hin und her zu werfen.

E., der eine unerwartete und laute Unruhe im Bus bemerkt, sieht schließlich, wie der Jugendliche seine Tasche wirft. Daraufhin bittet er den Fahrgast per Mikrofon, das Werfen zu unterlassen. Nach
der Aufforderung durch den Busfahrer wird es um die Cruppe der Jugendlichen ruhig. Nach Ankunft an der Endhaltestelle am Bahnhof in F. steigen alle Fahrgäste, auch die Gruppe der Jugendlichen, aus
dem Fahrzeug aus.

E. ist erleichtert und parkt sein Fahrzeug, um anschließendseine Pause zu machen" Auf dem Weg zu dem Aufenthaltsraum, der für die Busfahrer vorbehalten ist, bemerkt E. einige Jugendliche. Unter ihnen erkennt er denjenigen, der zuvor seine Tasche durch den Bus geworfen hat. Dieser schlägt gemeinsam mit den ihn begleitenden Jugendlichen laut und mit voller Kraft gegen das Fenster des Aufenthaltsraums und brüllt
seinen Unmut über die ihm aus seiner Sicht widerfahrene schlechte Behandlung durch den Busfahrer sowie seinen Frust heraus. Trotz der aufgeladenen Stimmung und der bereits spürbaren Aggressivität
bittet E. die Jugendlichen, ihr Verhalten zu unterlassen. An das weitere Vorgehen kann sich E. nicht mehr genau erinnern. Er weiß nur noch, dass der Jugendliche, den er im Bus aufforderte, seine
Tasche nicht zu werfen, auf ihn zukommt und ihm ohne Weiteres mit voller Wucht mit der Faust ins Gesicht boxt. Daraufhin stürzt E. zu Boden und wird ohnmächtig.

Erst durch hinzukommende Kollegen, die ihre Pause im Aufenthaltsraum verbringen wollen, wird E. gefunden. Sie alarmieren den Notarzt, der unter anderem eine schwere Cehirnerschütterung feststellt. E. muss im Krankenhaus stationär für mehrere Tage behandelt werden. Es dauert mehrere Wochen, bis E. sich wieder fit fühlt und ,,auf den Bock steigt". Die Freude an der Arbeit, die er seit Beginn seiner Tätigkeit als Busfahrer verspürte, ist seither weg. Seit diesem Tag fährt bei E. ein ungutes Cefühl auf jeder Tour mit. lm Zweifel hält er sich nun zurück, um Ärger zu vermeiden und aus dem Weg zu gehen.
Von den jugendlichen Tätern fehlt bisher jede Spur.

Aggressivität fast alltäglich

Aggressivität und Gewalt - mittlerweile eine fast alltägliche Situation im öffentlichen Nahverkehr. Fahrer, die bei Ausübung ihrer Tätigkeit Opfer von Übergriffen und Beschimpfungen werden, sorgen immer wieder für traurige Schlagzeilen in den Medien. Oft sehen sich die Fahrer vor der schwierigen Herausforderung, sich mit Situationen auseinanderzusetzen, deren Entwicklung und Verlauf für sie weder vorhersehbar noch einschätzbar sind. Meist kommt eine solche Situation völlig unerwartet und beinhaltet ein hohes Potential an Cewaltbereitschaft.

  • Wie soll der Fahrer wissen, in welcher Stimmung sich die Fahrgäste an der nächsten Haltestelle befinden?
  • Wie soll ein Fahrer in einer gewaltbereiten Situation reagieren?
  • Wie soll sich ein Fahrer wehren?
  • An wen kann er sich mit der Bitte um Hilfe wenden?

Dies sind Fragen, auf die es keine einfache Antwort gibt. Der richtige Umgang mit Frustration, Gewalt und aufgeheizten Gemütern ist immer vom Einzelfall abhängig. Grundsätzlich sollte man ruhig und besonnen bleiben.
Gewalt baut sich häufig schnell, unkontrolliert und grundlos auf und sucht sich ein Ventil. Oft findet sich dieses Ventil im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs in der Gestalt des Fahrers, der vor Ort allein ist und sich nicht oder nur bedingt zur Wehr setzen kann.

Beschäftigte brauchen Respekt

Die Übergriffe auf die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr stellen eine besorgniserregende und nicht mehr hinnehmbare Entwicklung dar. Es ist inakzeptabel, dass die Beschäftigten, die mit ihrer Arbeit zum Wohl aller und in der Regel rund um die Uhr tätig sind, unter Übergriffen verschiedenster Formen zu leiden haben.

Es sollte selbstverständlich sein, seinen Arbeitsplatz wieder genauso gesund zu verlassen, wie man ihn aufgesucht hat. Bei Übergriffen im Nahverkehr ist das jedoch nicht so. Von blauen Flecken über Platzwunden oder Angst bis hin zu psychischen Leiden - immer häufiger werden Beschäftigte während der Ausübung ihrer Arbeit verbal und körperlich verletzt. Das hinterlässt tiefgehende und belastende Spuren, denen es von vornherein entgegenzuwirken gilt. Notwendig sind Respekt und Wertschätzung für die Arbeit aller Beschäftigten im Nahverkehr, die ein friedliches Miteinander bedingen.

Bei Gewalt gegen Beschäftigte im Nahverkehr darf es keine Toleranz geben.

Arbeitgeber müssen aktiv werden

Auch Arbeitgeber im öffentlichen Nahverkehr müssen handeln und sich schützend vor ihre Beschäftigten stellen. Grundsätzlich darf Gewalt gegen Beschäftigte kein Tabuthema sein, das verschwiegen oder
verharmlost wird.


Übergriffe müssen systematisch erfasst werden, um deren Ursachen zu erforschen und wirksame Präventionsmöglichkeiten entwickeln zu können. Bereits vorhandene Präventionsmaßnahmen, beispielsweise durch
bauliche Maßnahmen und durch Fortbildungen wie Deeskalationstraining, sind weiterzuentwickeln und zu verbessern. Für den Fall der Fälle können beispielsweise Verhaltensregeln entwickelt werden, nach denen sich die Betroffenen richten können. lm Nachhinein ist eine angemessene Betreuung der Betroffenen sicherzustellen, die von psychologischer Hilfe bis hin zu Kommunikationskursen reichen kann.

Hilfe für Gewerkschaftsmitglieder durch die NahVG

Für Betroffene und natürlich auch für alle anderen Fahrer im öffentlichen Nahverkehr gibt es die Nahverkehrsgewerkschaft NahVG, die nicht nur bei alltäglichen Fragen mit Rat und Tat zur Seite steht, sondern auch bei erlebten Gewalterfahrungen und Beschimpfungen durch Fahrgäste während der Arbeit unterstützend tätig wird.

Drei Fragen an Axel Schad

tacheles:
Herr Schad, was meinen Sie, sind die Beschäftigten im kommunalen Nahverkehr sicher?

Axel Schad:
Eine grundsätzliche einhundertprozentige Sicherheit besteht leider nie. Besonders gefährdet sind natürlich die Fahrer, die allein ein Fahrzeug führen. Auch sind Busfahrer durch das kleinere Platzangebot im Fahrzeug beispielsweise gegenüber einer Straßenbahn - eher der Aufmerksamkeit eines gewaltbereiten Pöbels ausgeliefert. Ein höheres Aggressionspotential besteht auch während einer Nachtfahrt am Wochenende oder nach größeren Veranstaltungen (Fußball). Häufig gibt es für gewaltbereite Menschen im Vorfeld genügend Gelegenheiten, sich aufzuheizen und dann nach einem Ventil zu suchen. Ein Fahrer oder eine Fahrerin weiß nie, wer an der nächsten Haltestelle einsteigt und wie sich der Verlauf einer Schicht gestaltet. Ein gewisses Risiko fährt also immer mit.

tacheles:
Was tun die Arbeitgeber, um ihre Beschäftigten zu schützen? Gibt es lhrer Ansicht nach Unternehmen, die sich besonders um die Sicherheit ihrer Beschäftigten bemühen?

Axel Schad:
In einigen Bussen sind so genannte Hinter-Ohrschutz-Scheiben angebracht, durch welche ein potentieller Angriff in den Rücken des Fahrers oder der Fahrerin erschwert wird. Viele Bahnen haben mittlerweile abgeschlossene Fahrerkabinen, die ein Angriffsrisiko auf den Fahrer deutlich minimieren. Leider gibt es diese Schutzvorrichtungen jedoch noch nicht flächendeckend in allen Städten und Bundesländern. Ein großes Plus an Sicherheit ist natürlich auch immer dann gegeben, wenn viel Personal vorhanden ist und eingesetzt wird. Fahrscheinkontrolleure in Gruppen von mindestens drei Personen oder aber Sicherheitspersonal auf den
Bahnsteigen und an den Haltestellen geben vor, während und nach Großveranstaltungen nicht nur der Kundschaft Sicherheit, sondern können sich im Fall der Fälle gegenseitig unterstützen. Dieses Vorgehen hat sich schon heute bei vielen Arbeitgebern bewährt und wird auch zukünftig genutzt, so - um nur zwei Beispiele zu nennen - in den Kölner Verkehrsbetrieben oder in der Stadtwerke Bonn Verkehrsgesellschaft. Auch die mittlerweile oft vorhandene Videoüberwachung in den Fahrzeugen kann und soll zur Abschreckung und nicht nur als reines Dokumentationsinstrument dienen, da die Wahrscheinlichkeit zur Ermittlung der Straftäter so natürlich um ein Vielfaches höher ist.

tacheles:
Was können die Beschäftigten im Nahverkehr tun, um sich zu schützen? Wo finden sie Hilfe und Ansprechpartner?

Axel Schad:
ln erster Linie gilt es, sich auf keine aggressiven Auseinandersetzungen oder Pöbeleien einzulassen, um so dem vorhandenen Aggressionslevel den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass derjenige, der den Stress sucht und anfängt, meist keinen vernünftigen Argumenten zugänglich ist. Besser die Ruhe bewahren, einen kühlen Kopf behalten und gelassen, aber bestimmt im Auftreten sein und bleiben.
Ansprechpartner und Hilfe im Vorfeld und besonders nach einem Vorfall finden Fahrer oder Fahrerinnen und Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs direkt bei den örtlichen Ansprechpartnern unserer Fachgewerkschaft. Hier bewährt sich in besonderer Weise unsere Grundidee der kollegialen Nähe und Fachlichkeit, die durch unsere Ansprechpartner, die selbst aus dem Bereich kommen, garantiert werden. Darüber hinaus bieten unsere Netzwerke schnelle und unkomplizierte Wege zur Kontaktaufnahme und zum Austausch. Die besondere Fachkompetenz der NahVG wird gerade an solchen Stellen deutlich. Hierauf sind wir besonders stolz und haben insofern auch ein klares Alleinstellungsmerkmal gegenüber unseren gewerkschaftlichen Mitbewerbern.

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